Stadtviertel und Ein-gemeindung

Veröffentlicht am Kategorisiert in Blogbeiträge
Plan der Umgegend von Linz. Kupferstich, Freiburg im Breisgau, Herder, 1857. Heimatverein Steyregg
Plan der Umgegend von Linz. Kupferstich, Freiburg im Breisgau, Herder, 1857. Heimatverein Steyregg

Identität aus alten Wurzeln

Städte gliedern sich in Stadtbezirke und Stadtteile. Sie werden mehr und größer, wenn Städte wachsen. Rund um den historischen Stadtkern sind es meist Nachbargemeinden und deren Ortschaften, die zum Wachstum beitragen. Die meisten erkennt man noch am Namen, manches ist auch in der Struktur noch ablesbar. Vieles ist aber auch bis zur Unkenntlichkeit überbaut. Wieviel Ort findet sich noch im Stadtviertel? Diese Frage stelle ich mir immer dann, wenn ich an die Stelle eines ehemaligen Ortsplatzes komme. Ich versuche, den alten Vorort zu spüren, und meistens gelingt mir das auch. Die Identität eines über Jahrhunderte gewachsenen Lebensraumes. Wieso kann Stadt nicht viel damit anfangen? Was wäre wenn … diese Frage stelle ich in diesem Blog.

In diesem Blog geht es um die Buntheit von Stadtstrukturen. Über die Identität von Stadtvierteln. Es geht nicht um die Bewertungen von Eingemeindungen, sondern um deren Beiträge zum Stadt­organismus. Wie verändert sich dieser mit zunehmender Agglomeration? Bleibt er bunt, vielleicht sogar ganz bewusst? Erkennt der Stadtorganismus ein Potential in Stadtvierteln, die sich noch erkennen und lebendig sind?  Was braucht es, damit Authentizität in den Stadtteilen gewahrt bleibt und gelebt werden kann?

Wieso Viertel?

Die Bezeichnungen Stadtviertel und Stadtquartier haben einen antiken Ursprung. Zwei Straßen (Cardo und Decumanus) teilten die römische Stadt in vier gleiche Teile, Viertel / Quarte mit einer schachbrettartigen Anordnung von Häusern und Gassen. In der Mitte befand sich der Markt (röm. Forum, griech. Agora) mit den öffentlichen Gebäuden, heute unser Stadtplatz.

Mittelalterliche Gründungen dagegen sind organisch gewachsen, auch antike Städte haben sich verwachsen. Dennoch hat sich die Bezeichnung Viertel bzw. Quartier für Stadtteile erhalten, selbst dann als es schon mehr waren als vier.

Eingemeindungen

Städte sind ab der Mitte des 19. Stark gewachsen. Sie haben sich nicht nur verdichtet, auch Vorstädte und Vororte haben viel dazu beigetragen. Die ersten Eingemeindungen wurden durch Gründerzeitbauten überbaut. Spätere Eingemeindungen sind heute noch deutlicher erkennbar, werden aber auch laufend überbaut.

Ortschaften in der Stadt

Eine Ortschaft wird in der Regel aus zwei, drei oder vier Bauernhöfe gebildet. Manchmal sind auch Handwerkerhäuser dabei. Sie haben meist keinen Ortsplatz, nur die größeren oder ehemals selbständigen unter ihnen. Aber sie haben immer eine Mitte, die einen Wesenskern markiert. In einer dichteren Verbauung können gerade auch Letztere wichtige Aufgaben übernehmen.

Neugliederung der Stadt

Die Gliederung der Stadt in ihre integrierten Gemeinden nahm bald ein Ende. Städte wurden bald in Stadtteile aufgeteilt, die mit den ehemaligen Vorortgemeinden nicht mehr viel zu tun hatten. Sie wurden nicht nur baulich, sondern auch geistig dem Stadtorganismus angeglichen.

Organismus richtig verstanden

Ich versuche, einen Stadtorganismus mit dem menschlichen Körper zu vergleichen. Dieser ist eine Gesamtheit, wo alles zusammenspielend funktionieren muss. Aber auch jedes Organ ist ein eigener Körper, die ebenso aus Einzelteilen besteht, die zusammen eine Funktion erfüllen. Organe unterscheiden sich deutlich von Gesamtorganismus und sind dennoch ein integrierter Teil.

Viele Identitäten

So kann man auch Vororte sehen, wenn sie zu Teilen eines größeren Organismus werden. Es macht Sinn, ihre Lebenserfahrung und ihre Kernstruktur (Mitte, Ortsplatz, Altort, Ortsgebäude) zu erhalten. Und eventuell neue Funktionen darauf aufzubauen oder darin einzurichten. Aus der Ortsmitte kann so eine Stadtteilmitte werden, die nicht konstruiert, sondern gewachsen ist.

Synthetische Konstrukte

Heute spricht man von „statistischen Bezirken“. Das sind synthetische Gebilde, die eigentlich nur statistische Aufgaben haben. Aber sie greifen doch sehr in das Leben ein und haben sogar Auswirkungen auf die Stadtplanung. Wären sie saubere Zusammenschlüsse gewachsener Stadtteile, stünden sie dem Lebendigen deutlich näher.

Verlust der Mitten

Eine zentrale Funktion haben die Stadtteilmitten. Viele ehemalige Ortsplätze der eingemeindeten Vororte sind heute bis zur Unkenntlichkeit verbaut. In manchen Stadtteilen lassen sich die ursprünglichen Strukturen noch erkennen. In den wenigsten Fällen aber wurden sie in das städtebauliche Konzept übernommen und weiterentwickelt.

Identität aus alten Wurzeln

Mit dem Verlust der Mitten und der Kernstrukturen gehen auch die gewachsenen Ortsidentitäten verloren. Während sich die Großeltern noch an diese erinnern können, sind es für die Enkel bereits „spanische Dörfer“. Die örtliche Identität ist in der Stadtidentität aufgegangen. Nur mehr Platzstrukturen und Straßenverläufe, manchmal auch deren Namen, erinnern daran.

Holistisches Prinzip

Die Bewahrung des Dorfes in der Stadt oder deren authentische Wiederbelebung kann eine Stadt nicht nur bereichern, sondern eine kulturelle Vielfalt entwickeln. Das stärkt die Lebenskraft in den Stadtteilen und die Resilienz des städtischen Lebens. Das Kleine im Großen erkennt sich dann selbst und trägt gerne und kraftvoll zum Großen bei.

Historische Erhaltung und Interpretation

Die Erhaltung historischer Gebäude, Denkmäler und Gedenkstätten im eingemeindeten Vorort kann dazu beitragen, die Geschichte und kulturelle Identität des Viertels zu bewahren. Die Entwicklung von Interpretationszentren und -möglichkeiten kann helfen, die Geschichte und Bedeutung des Stadtteils besser zu verstehen.

Physische Nahversorgung

Stadtteilzentren können durch eine vielfältige Mischung aus Einzelhandel, Restaurants, Cafés, Kunstgalerien, Buchläden und anderen Unternehmen belebt werden. Die Förderung lokaler Unternehmen und die Schaffung von Anreizen für neue Unternehmen können dazu beitragen, das Angebot zu diversifizieren.

Kulturelle Nahversorgung

Kulturelle Nahversorgung durch ein dezentrales kulturelles Netz erreicht auch den „Normalbürger“. Die historisch begründete Ungleichverteilungen kultureller Einrichtungen zwischen Innen- und Außenstadtlagen sollte aufgebrochen werden. Die gerechte Verteilung von Kultur in der Stadt ist für eine ausgewogene Stadtentwicklung wichtig.

Keine Separierung von Funktionen

In neuen Stadtentwicklungsgebieten braucht es kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten und eine vorausschauende Integration von Kultur in die Stadtplanungs- und Entwicklungsprozesse. Es ist für das Leben in der Stadt nicht förderlich, Kultur, Handel und Wohnen zu separieren. Dezentrale Strukturen haben Qualitäten von Lebendigkeit und Resilienz.

Ermöglichungsräume schaffen

Öffentliche Räume müssen offen gestaltet werden und vielfältige Nutzungen zulassen. Benötigt werden öffentliche Räume von nachbarschaftlicher Qualität. Die Verbauung, wie sie derzeit geschieht, verhindert Lebensgemeinschaften, Begegnungsräume, Generationenplätze, das Leben schlechthin.

Bürgerbeteiligung und Mitbestimmung

Die Bewohner eines eingemeindeten Vorortes sollen in Entscheidungsprozesse einbezogen werden, die ihre kulturelle Identität betreffen. Es ist schließlich ihr über viele Generationen gewachsener Lebensraum, von dem hier gesprochen wird! Bürger- und Stadtteilforen können geschaffen werden, um die Stimmen der Gemeinschaft zu hören und zu berücksichtigen.

Zu guter Letzt

Ich weiß, dass meine Gedanken etwas unrealistisch klingen für Stadtplanung und Stadtteil­entwicklung. Aber es sind Gedanken über Leben und Lebendigkeit und daher das einzig realistische im Kontext von Stadt und Stadtleben. Ich wünsche mir, dass die Quellen des Ursprünglichen und Authentischen wieder geöffnet werden und Grundlagen für Planung und Gestaltung sein können.


Über den Autor:

DORFIMPULSE
Mag. Wolfgang Strasser
Lebensraum- und Unternehmensberater

A-4040 Linz, Leonfeldner Straße 94d
+43 (0)664 / 4053748
office@dorfimpulse.at
www.dorfimpulse.at

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert